Trotz Sehbehinderung mobil im Nahverkehr

2019-11-06 | Von Orcam Staff

share facebook share twitter share linkedIn share whatsApp
Trotz Sehbehinderung mobil im Nahverkehr: Beispiel Berlin

Der öffentliche Nahverkehr ist für Menschen mit Sehbehinderungen ein wichtiger Baustein für ein mobiles Leben. Bundesweit gibt es viele Verkehrsverbünde, die alle ihre eigenen Maßnahmen treffen, um blinden und sehbehinderten Menschen zu helfen. Meist geschieht das in Form von Leitsystemen und baulichen Maßnahmen, es kommen zunehmend aber auch Apps und persönliche Begleitservice-Dienste hinzu.

Als Beispiel für diesen Artikel haben wir uns die Hauptstadt Berlin angeschaut. Unser Tipp: Erfragen Sie bei Ihrem Verkehrsdienstleister vor Ort, wie er barrierefreies Reisen möglich macht.

Barrierefrei durch Berlin – was der Verkehrsverbund tut

In Berlin verfügen sowohl die BVG (U-Bahn, Bus, Straßenbahn) als auch die S-Bahn über ein Informations-, Leit- und Orientierungssystem für blinde und sehbehinderte Menschen. Den Kern bilden circa 38 cm breite Leitstreifen aus hellen Fliesen, die mit spürbaren Längsrillen versehen und in einem Abstand von 70 cm parallel zur Bahnsteigkante angebracht sind. Diese kann man etwa mit einem Blindenstock gut erfühlen.

Vor Treppen, Aufzügen sowie Zu- und Abgängen sind in der Regel zusätzliche Aufmerksamkeitsfelder aus Metall installiert. Eine schwarz-weiße Markierung setzt zudem die Bahnsteigkanten nochmals optisch ab. An und in den Fahrstühlen sorgen meist Knöpfe mit Braille-Schrift für Unterstützung. Akustische Signale in Aufzügen und am Bahnsteig geben weitere Informationen. Die Ansagen in den Zügen sind nicht immer geeignet, da sie nicht überall stattfinden oder oft zu leise sind. Immerhin: Bis 2023 will Berlin alle Bahnsteige barrierefrei gestaltet haben.

Tipp: Die BVG hat hier eine ausführliche Broschüre zum Thema Barrierefreiheit hinterlegt.

Die Broschüre geht auf Barrierefreiheit im Nahverkehr ein. Foto: Screenshot)


Apps oft noch in der Erprobungsphase

Zusätzlich zu den rein baulichen Maßnahmen erprobt der Verkehrsverbund in Berlin zusammen mit Forschungseinrichtungen und Startups auch technische Unterstützer, wie „Guide Me“ oder den „m4guide“. Guide Me ist derzeit mit verschiedenen Verkehrsdienstleistern in der Erprobungsphase. Grundgedanke: Ein professioneller Operator, ein Familienmitglied oder die Community hilft direkt, indem ein sehender Mensch via Smartphone-Kamera zugeschaltet wird. Die trägt der sehbehinderte Fahrgast so, dass die unterstützende Person die Umgebung sehen und Hinweise geben kann. Für dieses Produkt kann man den eigenen Verkehrsverbund einfach mal ansprechen, ob Guide Me angeboten wird. Der VBB in Berlin kennt das System und bietet es interessierten Nutzern an. m4guide geht einen etwas anderen Weg um den User sicher durch den Verkehr zu lotsen. Das System gibt gesprochene Hinweise zum Abbiegen und zum Umgehen oder Bewältigen von Hindernissen. Die Wegbeschreibungen sind so präzise, dass Nutzer von der Straße in die S-, U- und Regio-Bahnhöfe und in öffentliche Verkehrsmittel wie Bus oder Tram hinein und wieder herausbegleitet werden. Dieser Tür-zu-Tür-Guide soll laut VBB bereits in der Fahrinfo-App zu finden sein. Wir konnten ihn auf die Schnelle dort nicht entdecken. Insgesamt gilt für diesen Teil derzeit noch: Als interessierter oder betroffener Mensch am Besten einmal beim Begleitservice anrufen und fragen welche App man aktuell nutzen oder mit testen kann: Den Begleitservice erreicht man unter 030 – 34 64 99 40.

Auch moderne Hilfsmittel können nützlich sein. So ist die mobile Sehhilfe OrCam ein wertvoller Begleiter für Menschen mit Sehbehinderung. Die kleine Kamera nutzt künstliche Intelligenz, um Texte zu lesen, Gesichter zu erkennen und Produkte zu identifizieren. Auch eine Anzeigetafel am Gleis kann das Gerät erfassen und vorlesen. Die OrCam ist von den Krankenkassen in Deutschland anerkannt und kann offiziell als Hilfsmittel beantragt werden.

Kostenloser Begleitservice

In Berlin gibt es einen zusätzlichen Service, den man buchen kann. Insgesamt 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind beim Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg im Rahmen des bereits erwähnten Begleitservices angestellt. Auf Nachfrage haben wir erfahren, dass die größte Kundengruppe dieser Dienstleistung sehbehinderte Menschen sind. Der Begleitservice holt Menschen Zuhause ab, bringt sie mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zum gewünschten Zielort und zurück. Gerade für neue Strecken, die man noch nicht kennt, eine sehr wertvolle Unterstützung.

Der Service kann online oder per Telefon unter 030 – 34 64 99 40 gebucht werden. Telefonische Buchungsanfragen werden dort von Montag bis Freitag von 9:00 bis 16:00 Uhr entgegengenommen.

Das Video oben erklärt den Begleitservice des Berliner Nahverkehrs anschaulich in Ton und Bild.

Beratungsstellen geben Kurse und bieten Pläne

In der Hilfsmittelberatungsstelle des allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenvereins Berlin (ABSV) können Sehbehinderte spezielle Reliefpläne des Berliner S- und U-Bahnnetzes mit Erläuterungen in Großdruck oder in Punktschrift für 8,00 Euro kaufen. Auf den Plänen sind aus Platzgründen nicht alle Stationen verzeichnet, sie bieten aber einen guten Einstieg zur Orientierung. Der Verein bietet zudem eine Beratung für ein Training in Orientierung und Mobilität (O & M) an. Das Ziel hier: eine bessere Orientierung im öffentlichen Raum und im öffentlichen Nahverkehr.

Nahverkehr mit Sehbehinderung kostenfrei nutzen

Menschen mit Einschränkungen in der Mobilität, können den Nahverkehr oft kostenfrei nutzen. Die Kostenfrage hängt vom Grad der Einschränkung ab. Für Berlin gilt: Wer einen gültigen Schwerbehindertenausweis besitzt, fährt kostenlos. Wer das Merkzeichen “B” besitzt, darf auch eine Begleitperson kostenfrei mitnehmen.

Unser Fazit: Die Grundausstattung ist vorhanden, damit auch Menschen mit Sehbehinderung den Nahverkehr nutzen können. Hier und da sind aber vor allem technische Helfer noch in einem sehr jungen Stadium. Derzeit hilft es, wenn man sich durch einen Mix aus Leitsystemen, Serviceangeboten und externen Hilfsmitteln unterstützen lässt.